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Lawrows Kaviar

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70 Jahre nach Kriegsende, auf einer Gedenkfeier des Politestablishments in Wolgograd, entdeckt eine ukrainische Schriftstellerin zwischen Siegerstolz und Bequemlichkeit das Mitleid.

###© Global Look Press 

Als ich gefragt werde, ob ich Lust hätte, den deutschen Bundesaußenminister auf seiner Reise zur Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsendes in Wolgograd als Mitglied der Delegation zu begleiten, lese ich gerade schmunzelnd in dem Buch „Spektakuläre Unglücksfälle aus dem alten Wien“. Meine Augen fixieren für einen Moment die Zeichnung, auf der ein Mann mit Adlernase von einer schwingenden Schaukelgondel mitgerissen wird. Dann sage ich: „Ja, sehr gerne. Krieg ist ein großes Thema für mich als Ukrainerin.“

Erst als ich im luxuriösen Airbus der deutschen Luftwaffe meine Beine unverschämt weit ausstrecke, gewöhne ich mich an den Gedanken, dass ich Russlands Boden auf diesem ungewöhnlichen Wege zum ersten Mal in meinem Leben betreten werde. Rossoschka, der Soldatenfriedhof bei Wolgograd, dem früheren Stalingrad, wird das Erste sein, was ich von dem ehemals verbrüderten Land sehen werde. Herr Steinmeier taucht in unserem Teil der Kabine auf und schüttelt seinem Gefolge die Hand. Das Lächeln steht ihm ausgesprochen gut, wie auch das elegant gepunktete Muster seiner Krawatte. Einige Male waren mir seine schwarzorangenen Krawatteneinfälle in den Abendnachrichten unangenehm aufgefallen.

Vor dem Hintergrund des kleinen Flughafen-Gebäudes, direkt auf dem Rollfeld stehen drei Schwanenprinzessinnen, wie dem berühmten Gemälde von Wrubel entsprungen, mit Brot und Salz. Man ist so geblendet von dem Glanz der Pailletten auf ihren Kostümen, dass man den zweitwichtigsten Mann der Russischen Föderation leicht übersieht. Sergej Lawrow, etwas abseits, hält die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht, während er nach oben schaut und wohl hinter der Buchstabenkombination „Bundesrepublik Deutschland“ an der Flugzeugaußenwand seinen Amtskollegen vermutet. „Bitte benutzen Sie den hinteren Ein-/Ausgang“ steht auf meiner German-Air-Force-Bordkarte. Ich folge dieser Anweisung und begreife mit einem Mal, warum die Staatsoberhäupter bei der Landung immer so einsam und ihre Flugzeuge so unheimlich leer wirken. Auch das Phänomen des Herdentriebes spüre ich nun am eigenen Leib. Wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, laufen alle dem ersten Diplomaten der Bundesrepublik Deutschland und dem der Russischen Föderation forschen Schrittes hinterher und verteilen sich auf die schwarzen Vans und Limousinen, die sich sofort in Bewegung setzen. Ohne an den Ampeln oder Kreuzungen anzuhalten, rasen sie über die vollkommen leere, mit unzähligen Schlaglöchern übersäte Straße. Ein Glück, dass ich keine Gallensteine habe. Später in Wien lese ich auf Volgograd News über einen Aktivisten, der einen Tag vor dem hohen Besuch die Schlaglöcher auf unserer Route Richtung Stadt mit weißer Farbe markiert hatte, um auf diese Weise Lawrows Aufmerksamkeit zu erregen. Die Polizei hatte ihn dabei im Morgengrauen erwischt, die weiße Farbe war in Eile übermalt worden, und so blieb die Protestaktion ohne Wirkung, sicherlich aber auch nicht ohne Strafe für den mutigen Mann.

Immer mehr Menschen stehen an den Bushaltestellen Spalier, je näher wir der Stadt kommen. Sie lächeln und winken dem Autokonvoi zu. Es macht uns nichts aus, stundenlang auf den Bus zu warten, sagen ihre strahlenden Gesichter, rast ihr nur zu euren Festivitäten! Irgendwann wenn ihr weg seid, wird unser 5A oder 29E kommen. Ihr Anblick gibt mir einen Stich. Ärgerlich finde ich hingegen das dumme Grinsen der feschen Verkehrspolizistinnen in Retro-Sowjetuniformen an den Kreuzungen. So wie die roten Fahnen, die erdfarbenen Schiffchenmützen mit Stern und das Georgsband, ein Symbol der Tapferkeit, das an jedem zweiten Vorschulkind klebt, tragen die Funkenmariechen zur grotesken Karnevalsstimmung dieses Festes bei. Es gibt mehrere Gründe, warum es den Russen so schwer fällt, in Würde, ohne Kitsch und Fanfarenmusik der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu gedenken. Der Hauptgrund ist die menschliche Bequemlichkeit. Sie ermöglicht es, dass man sich mit den Symbolen eines untergegangen Staates abfertigen lässt, und sie hilft der regierenden Elite, dank Phantomschmerz die alte und sehr fragwürdige Größe aufrecht zu erhalten. Das Mitleid und die wahre Empathie bleiben auf der Strecke. Mitten im sowjetroten Fahnenrauschen entgleitet das Kostbare: der lebendige Bezug zur Geschichte, die nunmehr als leere Hülle zur Schau getragen wird.

„Mein ganzes erwachsenes Leben lang war ich einer von diesen bequemen Menschen. Seit der Annektion der Krim und dem Krieg in meiner Heimat ist es aber kein Siegerstolz, den ich empfinde, ich bin einfach nur traurig an diesem Tag und habe Angst, die vielen Panzer und Buk-Raketen zu sehen“, offenbare ich einer Diplomatin später am Abend nach dem Besuch des Soldatenfriedhofs, des Mutter-Heimat-Denkmals und des Konzerts „Friedensmusik gegen den Krieg“. Wir sitzen auf einem Plüschsofa des Hotels Wolgograd und können unsere Teller vor lauter Kaviarcanapés kaum sehen. „Ach ja“, sagt mein Gegenüber und schaut an mir vorbei zu Lawrow und dem Gouverneur, die eben noch breitbeinig und mit geballten Fäusten wie zwei reumütige Diebe auf der Bühne gestanden haben, und bei deren Anblick mir auf einmal Tränen des Mitleids in die Augen steigen. „Haben Sie gesehen“, sage ich, „dass die Beine der beiden breiter wurden, als der Außenminister die Stadt um Vergebung gebeten hat?“ Die junge Dame hört mir nicht zu, sie kaut eilig zu Ende, steht auf und drängelt sich näher an die beiden Männer heran, die nun heiter, fast erleichtert wirken. Alles schart sich um sie, magisch angezogen von der Aura der Macht. All diese Menschen haben es geschafft. Ob das Volk da draußen, die Gymnasiasten und die greisen Veteranen in tannengrünen Uniformen die halbe Nacht zu Fuß unterwegs sind, um nach Hause zu kommen – solche Fragen beschäftigen hier sicherlich kaum einen.

Allegorie Russland?© privatAllegorie Russland?

Auf dem Rückflug fällt mir das Kind im Plastikregencape ein, das während des Konzerts getanzt hatte. Schlafwandlerisch, wie von Sinnen, von reiner Emotion getrieben, hatte sich der kleine Körper im Dunklen vor der Freilichtbühne bewegt. Unbeschwert durch die Gedanken an die Vergangenheit und Zukunft. Eine Allegorie Russlands, des ewigen Kindes, das immer noch nicht gelernt hat, Emotionen zu zügeln, rational zu denken, sowie Grenzen zu respektieren, auch die des Anstands. Auf jeden Fall wird es für die Politiker und Bürger dieses Landes Zeit, erwachsen zu werden.

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von Marjana Gaponenko erschienen in Ich. Heute. 10 vor 8. ein Blog von FAZ.NET.


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